Befreiung zum Leben
Rudolf Lütticken
Eine spirituelle Vision - Predigten
Predigten schriftlich ausformulieren, aufbewahren und über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten sammeln, schließlich eine Auswahl daraus ins Netz stellen oder als Buch zugänglich machen, - das ist begründungspflichtig. Predigten sind zunächst einmal lebendiges Wort, hineingesprochen in die konkrete Situation, in der sich Hörende und Prediger miteinander befinden. Aus diesem Grund gilt die nichtgeschriebene, frei gehaltene Predigt vielen als Ideal; aus diesem Grund weigern sich viele Prediger, in schriftlicher Form festzuhalten oder gar weiterzugeben, was sie gesprochen haben.
Ich habe mit dem Anspruch der freien, situationsbezogenen Rede meine eigene Erfahrung: So sehr es den glücklichen Augenblick geben kann, in dem eine solche Rede gelingt; so sehr es auch die charismatische Begabung eines Predigers sein mag, dass sie ihm immer wieder gelingt: wo dieses Gelingen zum Anspruch wird, kann das zur Vordergründigkeit verleiten, zur rethorischen Effekthascherei, zur Wiederholung leicht abrufbarer Klischees; zu stockender, nach Gedanken und Worten tastender, ungeschickter Rede; oder zu sprunghafter, ungesteuerter und darum auch nicht tief verantworteter Gedankenfolge.
So habe ich mich für den anderen Weg entschieden, - dafür, Predigten sorgfältig in schriftlicher Form vorzubereiten und in dieser Form auch vorzutragen. Sicher: es gilt, das Letztere so zu tun, dass es die Hörer so unmittelbar anspricht wie ein frei gesprochenes Wort und nicht als Abgelesenes erreicht. Das schien mir jedoch leichter realisierbar zu sein, als umgekehrt in der spontanen Rede das "unnütze" und unverantwortete Ge-rede zu vermeiden.
In dieser Form der schriftlich vorbereiteten und ausgearbeiteten Predigt erkannte ich eine eigene Chance: Sie lag darin, den Bezug auf die Situation der Hörenden so zu vertiefen, dass sich darin Aussagen von situationsunabhängiger, bleibender Aktualität machen lassen. In meiner Sicht ist dies die Weise, wie das Wort Gottes uns durch die Heilige Schrift erreicht: sie spricht - in ihren unterschiedlichen Rede-"Gattungen" - in eine konkrete, geschichtliche Situation hinein, dies aber in einer solchen Tiefe, dass sich darin eine Aussage von situationsunabhängiger Aktualität erschließt.
So hatte ich in meinen Predigten nie nur die - manchmal kleine und fromme - Gemeinde derer, die vor mir saßen, als Adressaten im Blick, sondern fühlte mich im Dienst der Verkündigung immer auch einer nicht eingegrenzten Hörerschaft jenseits des gottesdienstlichen und konfessionellen Rahmens verpflichtet, der ökumenischen Gemeinschaft aller Getauften und ihrem missionarischen Auftrag in unserer Zeit. Allerdings ergab sich daraus eine Rede, die die augenblickliche Aufnahmefähigkeit der Anwesenden durchaus überfordern konnte. Nicht nur der Wunsch, ihnen das Nachlesen des Gehörten zu ermöglichen, - auch der Wunsch, einen Adressatenkreis jenseits von ihnen anzusprechen, führte zu dem Entschluss, die vorgetragenen Texte auch im Nachhinein schriftlich zugänglich zu machen.
Es ist mir wichtig zu verdeutlichen: Die Bewegung, die mich persönlich schließlich zum Austrittaus Kloster und Kirche geführt hat, steht für meine Sicht in keinem Widerspruch zu der Dynamik,die aus den über etwa zwei Jahrzehnte gesammelten Predigten spricht. Im Gegenteil: Eins ist wie das andere von dem Engagement getragen, das Licht des Wortes Gottes unmittelbar in die Situation des heutigen Menschen hineinzutragen - ob er sich als gläubigen Christen versteht oder nicht -,damit es nicht unter dem Scheffel seinerkirchlich-konfessionellen Vereinnahmung und Instrumentalisierung verbleibt,sondern unverhüllt allen im Hause leuchte.